Wer die Stadt zum ersten Mal bereist, hat viel zu erkunden: Eine gemütliche Altstadt, ein Amphitheater, die Ufer der Charente. Die Abtei Abbaye aux Dames bietet gleich mehrere musikalische Überraschungen
Der Nachmittagsverkehr staut sich etwas auf der Straße Cours Lemercier, einer Einfallstraße von Saintes. Ich staune, denn selten ist die Straße, die von der Autobahn direkt in die Stadt führt, so schön: Auf beiden Seiten stehen stattliche Häuser, es gibt Boutiquen und Schuhgeschäfte, und vor Bistros und Cafés sitzen Leute in der Herbstsonne. Während ich Stop-and-go fahre, bin ich dankbar für die Platanen, die angenehmen Schatten spenden, denn die Temperaturen sind noch immer sommerlich.
Atlantik in der Nähe
Saintes liegt in der Region Nouvelle-Aquitaine im Westen Frankreichs. Bordeaux liegt anderthalb Stunden Fahrt mit dem Auto weiter südlich, bis zum Atlantik sind es 60 Kilometer. Saintes ist meine Zwischenstation auf dem Weg in den Süden. Ich kannte die Stadt vorher nicht, doch jetzt, mit den frischen Eindrücken, will ich so schnell wie möglich einchecken und mich zu einem Stadtbummel aufmachen.
Auf der anderen Seite der Charente, einem breiten Fluss, steuere ich die ehemalige Abtei Abbaye aux Dames an. Sie wurde 1047 von Benediktinerinnen gegründet. Heute übernachten Touristen in den Zellen, in denen früher die Nonnen schliefen.
Ich habe nicht reserviert und versuche mein Glück. Zunächst laufe ich um die Abtei herum, erkundige mich mit meinem rudimentären Französisch nach der Rezeption und betrete schließlich den Innenhof, der mich ein weiteres Mal staunen lässt.
Musik hat der Abtei neues Leben eingehaucht: die Cité musicale
Auf dem weitläufigen Gelände stehen mehrere Gebäude, alle aus hellen, großen Steinquadern gebaut. Unter der Sonne erstrahlen sie nahezu in Weiß, sogar der unbefestigte Boden, und in der Mitte steht ein merkwürdiges Gebilde aus silbernem Metall, das ein bisschen wie ein Kiefernzapfen aussieht. Die unteren Elemente sind hochgeklappt, aus dem Inneren erklingen Töne und im schattigen Halbdunkel bewegen sich Menschen.
Ich habe Glück und bekomme ein geräumiges Familienzimmer zugewiesen. Wände und Deckengewölbe sind unverputzt, kräftig rote Bettdecken und Vorhänge bilden einen lebhaften Kontrast zum Beige der Mauern. Obwohl das Deckengewölbe sehr hoch ist, wirkt das Zimmer gemütlich, und ich freue mich schon aufs Lesen. Über einem Holzständer hängen weiße Handtücher und Fußmatten aus Frottee, in einem Fach liegen Bademäntel und eingeschweißte Badeschläppchen, denn die Duschen und Toiletten sind auf dem Gang untergebracht – so wie zu Zeiten der Benediktinerinnen. Später stelle ich fest, dass einige Zimmer auch mit eigenen Badezimmern ausgestattet sind.
Mit Musik experimentieren
Zurück auf dem Platz bin ich hin und her gerissen. In dieses komische Ding steigen, dem Carrousel Musical, dem Musikkarussell, wie ich später erfahre, wäre schön oder es zumindest mal von außen beobachten, auch das Klostergelände genauer erkunden, mit einem Audioguide vielleicht sogar, der mir an der Rezeption angeboten wurde und überhaupt: Die vielen Eindrücke, die ich in der knappen Stunde, seitdem ich in Saintes bin, sacken lassen – wie wär das? In meinem Hinterkopf quengelt immer noch die Vorstellung, über die Hauptstraße zu laufen und durch die Gassen, die davon abzweigen. Ich entscheide mich, das Abteigelände im Schnelldurchgang zu erkundigen, die romanische Hauptfassade des Kirchengebäudes und den lauschigen Platz unter Platanen und heute Abend kommt dann der Rest.
Cité musicale 1972 befand sich die Abtei in einem schlechten baulichen Zustand, als die Idee geboren wurde, sie zur Stätte des Festival de Musique Ancienne, eines Festivals für Alte Musik zu machen. Das hat der Abtei einen regelrechten Schub verpasst, denn in den Folgejahren wurde sie grundlegend restauriert. Dieses Jahr konnte das 50. Jubiläum gefeiert werden. Die Daten für das Festival 2022 stehen auch schon fest: 16. bis 23. Juli 2022. Die musikalischen Aktivitäten werden heute in der sogenannten Cité musicale gebündelt. Das ganze Jahr über bietet sie sogenannte Acoustic Journeys an, auf denen man mit Audioguide zu zwölf Punkten durch die Gebäude und über das Gelände geführt wird – teilweise musikalisch in 3D-Akustik. Etwas Besonderes müssen die Acoustic Siestas sein: In Liegestühlen lauscht man, ebenfalls in 3D-Akustik, musikalischen Stücken, die auf Festivals der Abtei aufgeführt wurden. Zur Auswahl stehen zurzeit unter anderem Werke von Beethoven, Onslow, Monteverdi, Benevolo, Händel und Bach. Und schließlich das Carrousel Musical, in dem man mit verschiedenen Instrumenten experimentieren kann, während es sich dreht. Am Ende einer Fahrt werden alle Töne zu einem Ganzen zusammengefügt. Das Musikkarussell ist das erste seiner Art und dürfte besonders Menschen begeistern, die wenig oder keinen Kontakt zu Musik haben. Eindrücke und mehr Informationen unter Tipps & Links
Die Charente – breit und ruhig
Die Charente teilt die Stadt auf angenehme Weise, sie fließt breit und ruhig. Vom Kloster laufe ich in wenigen Minuten direkt auf sie zu, komme vorbei am römischen Germanicusbogen aus den Jahren 18 und 19 nach Christus. Neben dem Bogen hat die Stadt übergroße, bunte Pflanzenkübel aufgestellt; dazwischen stehen Holzliegen, die zum Fluss und damit zur Nachmittagssonne ausgerichtet sind. Eine junge Pilgerin hat es vorgezogen, sich auf der Wiese daneben auszustrecken. Ihren Rucksack mit Jakobsmuschel hat sie neben sich gestellt; sie scheint in Tiefschlaf versunken zu sein.
Vornehm stöbern im La Fayette
Auf der anderen Fluss-Seite, gleich an der Brücke, am Beginn der Innenstadt, steht das Kaufhaus La Fayette, Frankreichs exklusive Kaufhauskette. In Paris gilt es als einer der vielen Anziehungspunkte der Stadt. In Saintes ist es natürlich ein paar Nummern kleiner, aber Taschen, Schals und Lederhandschuhe im Erdgeschoss, die nicht nur angeboten, vielmehr präsentiert werden, verbreiten das gleiche Flair wie die große Schwester in Paris.
Endlich in der Innenstadt! Das Geschäftszentrum von Saintes erstreckt sich über mehrere Straßen zwischen der Hauptstraße und der Kathedrale. PKWs sind nicht erlaubt, so dass es sich auf ihnen ungestört bummeln lässt. Ich fange mit der größten, der Rue Alsace-Lorraine, an. Ketten finden sich, wenn überhaupt, nur hier. Auf ihr reihen sich Herren- und Damenboutiquen und andere kleine Läden aneinander, dazwischen hier und da ein Café, Bistro und Restaurant.
Ich stöbere in einigen Boutiquen herum, begutachte die Auslagen eines Spieleladens und verlasse zwischendurch immer mal wieder die Geschäftsstraßen, hinein in ruhige Wohnstraßen, auf denen kaum ein Mensch unterwegs ist.
Die Kathedrale, die mit bisherigen Sehgewohnheiten bricht
Auf dem Place Saint-Pierre steht die Kathedrale. Ihre Fassade ist im Laufe der Zeit ziemlich ergraut, doch was noch mehr ins Auge springt, ist ihr Turm. Seine außergewöhnliche Form widerspricht allen bisherigen Sehgewohnheiten: Nach unten wird er immer breiter und wirkt dadurch irgendwie trutzig. Seine Fassade ist in zwei Teile geteilt. Sind in der oberen Hälfte Fenster und kleine Türme angebracht, ist die untere Hälfte einfach glatt. Ich versuche eine ganze Weile, der Kathedrale etwas abzugewinnen.
Xanten ist seit 2003 Partnerstadt
Etwas außerhalb der Innenstadt liegt in fußläufiger Entfernung das römische Amphitheater. Von der Straße aus könnte man es glatt übersehen, denn teilweise versperren Bäume die Sicht und Gras wuchert über weite Teile der Steine.
Mich überrascht der Eintrittspreis von nur vier Euro. Es bleibt noch eine Stunde, bis das Amphitheater schließt. Zeit genug, mich umzusehen, und zum Beispiel die Arena durch den gleichen Gang zu betreten, durch den die Gladiatoren vor fast 2000 Jahren einmarschierten. Sie hat die Form einer Ellipse. Mit ihren 126 Metern Länge und 102 Metern Breite wirkt sie stattlich, ebenso die hohen Bögen an ihrem Kopfende, die noch gut zu erkennen sind. In der Arena wurden Gladiatorenkämpfe ausgetragen und Tierjagden veranstaltet.
Angesichts der römischen Vergangenheit, die Saintes mit Xanten, der Stadt am Niederrhein teilt, wundert es nicht, dass sie 2003 eine Städtepartnerschaft eingegangen sind.
Den Tag an den Ufern der Charente ausklingen lassen
Ein Lokal zum Abendessen zu finden, ist leicht in Saintes – natürlich in der Innenstadt, aber auch außerhalb lohnt es sich Ausschau zu halten. Auf dem Weg zurück zur Abtei laufe ich in der Abendsonne an der Charente entlang, auf der vereinzelt Ruderer unterwegs sind.
Es beginnt zu dämmern, als ich zurück zur Abtei komme und mich noch ein bisschen draußen hinsetze. Ich finde den Platz mit den vielen Gebäuden, den dezenten Fassaden, dem Musikkarussell fantastisch, genauso aber wie mein Zimmer, zudem wartet ein gutes Buch, ich bin wieder mal hin und her gerissen. Eine Gruppe von Leuten unterhält sich noch ausgelassen, als mich eine Französin anspricht. Ich radebreche etwas Französisch und schließlich lädt sie mich ein, sie zu einem Treffen mit einer Freundin zu begleiten. Nett, der Gedanke, aber ich schlage ihre Einladung aus. Ich entscheide mich, in der Abtei zu bleiben – ein schöner Ort.
Wer mehr lesen möchte …
Saintes eignet sich als Ausgangspunkt in die Umgebung. Am Atlantik liegt auf der Spitze der Île d’Oléron der Ort Saint-Trojan-Les-Bains. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gilt er als Badeort, was sich heute noch in den Häusern entlang der Küste widerspiegelt. Der Hafen ist Teil des sogenannten Becken von Marennes, das im Zeichen der Austernzucht steht. Schon entlang der Straße vor der Insel stehen Stände und Buden, die Austern verkaufen. Eindrücke siehe Fotokarussell.
Im Osten liegt Cognac, nur 25 Kilometer entfernt. Das Schönste an Cognac ist die Umgebung mit vielen Weinanbauflächen. Es hat nicht den Charme wie Saintes, aber die vielen Cognac-Keller vermögen den ein oder anderen zu beeindrucken.
Transparenzhinweis: Ich finanziere meine Reisen selbst. Für Empfehlungen erwarte und erhalte ich keine Gegenleistung. Ausnahmen kennzeichne ich.
Tipps & Links
Infomaterial
NO 1: Die Touristeninformation befindet sich neben dem Germanicusbogen an der Place Bassompierre. Der Falt-Stadtplan enthält Fotos von den wichtigsten Punkten der Stadt, aber auch der Umgebung, incl. jeweils einem Foto und einer Kurzbeschreibung. Für die erste Orientierung sehr gut! Zu Saintes gibt es keine App. Auch in der App zur Region Nouvelle-Aquitaine spielt Saintes keine Rolle.
NO 2: Website Saintes-Tourismus. Enthält u.a. eine Übersicht der Restaurants, nach Sparten sortiert.
NO 3: Website der Stadt Saintes. Unter Découvrir & Sortir stehen touristische Informationen, u.a. ein Veranstaltungskalender.
NO 4: Website der Île d’Oléron
Aktiv unterwegs
NO 5: Website der Abtei Abbaye aux Dames. Von ihr aus können u.a. die Zimmer gebucht werden.
NO 6: Video über das Musikkarussell
NO 7: Ein Video über das junge Orchester der Abtei Le jeune Orchestre de L’Abbaye aux Dames liefert einen Vorgeschmack auf das, was die Cité musicale bietet.
NO 8: Das Gleiche lässt sich dem Video aus dem diesjährigen Musik-Festival, dem 50-jährigen Jubiläum, nachsagen.
NO 9: Informationen über das römische Amphitheater
Essen & trinken
NO 10: Schön sitzt man im Hof des Restaurants La Musardière
Aufenthaltsdauer
NO 11: Ich empfehle mindestens fünf bis sechs Stunden für die Abtei, die Altstadt, das Amphitheater, die Wege dazwischen und ein bisschen verweilen an der Charente. Der Aufenthalt ähnelt dann allerdings einem Schnelldurchlauf, Unternehmungen wie Acoustic Journey oder Acoustic Siestas (siehe Kasten Cité musicale) sind dabei nicht mit eingerechnet. Wer gemütlich unterwegs ist, dem sei empfohlen zu übernachten und zwei ganze Tage einzuplanen. Aufenthaltsdauer für Saint-Trojan-Les-Bains incl. An- und Abfahrt aus Saintes: ein Vormittag oder Nachmittag.
Und nun zu Euch, liebe Leserinnen und Leser:
Viele kennen das Gefühl: Am Urlaubsort gibt es so viel zu besichtigen und kennen zu lernen – die Zeit reicht nicht für alles. Ich bin ein zweites Mal nach Saintes gereist. Wo habt Ihr das schon mal erlebt? Wie seid Ihr damit umgegangen?
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